Der dicke Zwerg

I.

Unsere phantastische und vor Gefahren nur so strotzende Reise beginnt in den saftigen Wäldern des USUI Waldes, irgendwo tief im Moscherland.
Der USUI Wald ist so grün wie kein Wald zuvor und wohl auch deshalb ein Paradies für einen jeden Abenteurer.

Ein kleiner, dicker Zwerg, der auf den Namen „Nöös“ hört, liegt an einem meterdicken Baumstamm und ist hörbar am schlafen. Dass diese Lautstärke, die von einer solch prächtigen und üppigen –wenn auch übel riechenden- „Mahlzeit“ ausgeht,  in diesem Wald nicht gerade als empfehlenswert zu bezeichnen ist, dürfte jedem klar sein.

Dennoch wird weiter geschnarcht und Nöös macht seinem Namen damit mal wieder alle Ehre. Wobei angemerkt werden sollte, dass er nicht grundlos seinen doch recht merkwürdig anmutenden Namen trägt: denn wenn sein Zinken mal nicht verstopft ist und sein Schnarchen ins Unerträgliche laut werden läßt, ist er ununterbrochen am Schneutzen. Aber man gewöhnt sich an alles, ist zumindest sein Kommentar dazu. Inwieweit man ihm für diese Ansicht Glauben schenken darf, sei jedem selbst überlassen.

Der Tag scheint für unseren Zwerg, dem wohl faulsten Abenteurer unserer Zeit, wie geschaffen: Das Wetter ist klasse, warm und die Vöglein zwitschern. Die Sonne scheint herrlich herab und läßt das Grün des Waldes noch grüner wirken. Alles ist geradezu prädestiniert dafür, um genau jetzt an diesem Baum, angelehnt an diesem weichen Moos zu pennen.

Ein rosa Dunst umnebelt ihn in seinen Träumen – lila Schafe tanzen auf ihrem Hinterbeinen um ihn herum... herrlich. Doch da ein Knacken. Die Schafe sind vergessen - er der Realität näher als je zuvor.

Nöös versucht ein Augenlid zu heben, doch dies könnte ihn verraten. Bloß nicht bewegen, geht es ihm durch den Kopf und sein Hirn scheint die Idee für nicht ganz unvernünftig zu halten. Er bleibt bewegungslos. Falls sein Gegenüber ihn erwachen sehen würde, könnte es um ihn geschehen sein.

Nöös Herz ist am pochen, sein Adrenalin scheint statt Blut durch seine Adern zu laufen. Ein Muskel nach dem anderen spannt sich – er ist bereit, bereit aufzuspringen und... vermutlich zu sterben. Nein, so soll es für ihn nicht enden. Und darum läßt er seinen rechten Arm langsam von seinem Körper gleiten. Nöös ist sich bewußt, dass diese Bewegung eigentlich nicht mit der eines Schlafenden in Einklang zu bringen ist. Doch da sich sein Geist eh an dem Gedanken der Benutzung seines Bärentöters festgebissen hat, bleibt nicht mal die Idee an eine alternative Rettungsmaßnahme.

Während es schon wieder knackt und raschelt, umgreift Nöös mit seiner rechten Hand den Bärentöter an seinem Gürtel und umfaßt ihn mit aller Kraft. Das Handgelenk färbt sich dabei weiß und Adern treten deutlich hervor. Er atmet tief ein, reißt dann beide Augen auf und blickt dem Etwas direkt ins Gesicht.

II.

Irgendwo... weit weit entfernt. In einer Galaxie, die sooo weit entfernt von unserem Zwerg Nöös und dem Moscherland liegt, dass man sich fragt, warum unsere Geschichte ausgerechnet hier anknüpft... Doch was viele nicht wissen: Entfernung ist nicht alles, Zeit spielt für das große Ganze keine Rolle! Die Welt ist keine Scheibe und genauso wenig sollte man sie immer nur aus der Sicht eines Individuum betrachten.

Nöös ist nichts. Das hier ist alles. Wir befinden uns auf einem aus den Weiten des Alls grün erscheinenden Planeten. Selbst die Bewohner hier sind grün. Sie haben Fühler, springen herum und machen quietschende Geräusche. Sie rennen oder watscheln in einer rasanten Geschwindigkeit über die weiten grünen Flächen, trinken aus den klaren und sauberen Bächen und futtern von den dicken, blauen Beeren, die an jeder zweiten Pflanze hängen.

Das Leben ist schön. Fast wie im Paradies. Doch da man nicht weiß was gut ist, wenn man nicht auch die Schattenseiten des Lebens gesehen hat, schätzen sich die Bewohner nicht so glücklich wie sie es eigentlich sollten und könnten.

Das ganze Leben lang nur Freude und Wärme. Selbst der Tod eines Einzelnen kann die anderen nicht schrecken – so etwas schweißt dieses Volk von ulkigen Gesellen nur noch stärker zusammen. Gemeinsam stark- niemals „gemeinsam einsam“. Welch eine Vorstellung.

Doch welch Zufall. Kaum werfen wir einen Blick in diese Welt, scheinen es andere uns gleich zu tun. Eine Rasse, den Menschen vom Verhalten scheinbar nicht ganz unähnlich, sehen das Glück und den Frieden auf diesem Planeten als einen persönlichen Angriff – als eine Offenlegung ihrer verdrängten Wünsche und Sehnsüchte. So viel Friede kann natürlich nicht toleriert werden. Warum jemanden glücklich sein lassen, wenn man es selbst nicht ist!

Mit einem Donnern fliegen die ersten Vorboten des drohenden Unheils über das grüne und immer fröhliche Volk hinweg. Noch scheinen viele die Gefahr nicht erkannt zu haben und dennoch frieren die ersten der noch immer freudig strahlenden Gesichter ein. Aus den zu Lächeln verzogenen Mündern werden Fratzen als die ersten Einschläge zu verspüren sind. Aus dem freudigen Juchzen wird ein Schluchzeln und Flehen. Doch niemand hört dieses Volk – niemand sieht ihre Qualen.

Der Planet ist zerbombt. Die Angreifer drehen ab.

Doch so soll es nicht enden. Das Schicksal selbst hat dieses Schicksal nicht zugedacht. Und während die Zahlen der Zeit mahlen und das Universum unruhig wird, kristallisiert sich folgende Einsicht: Dies hätte nicht geschehen sollen. So etwas war nicht vorgesehen. Nicht einmal die Zukunft war auf ein solches Geschehen vorbereitet.

Alles arbeitet. Es manifestiert sich: nichts. Die Zeit krümmt sich, der Raum fällt in sich zusammen. Ein Schicksal, auf das selbst das Schicksal nicht Einfluß nehmen konnte. Irgendetwas ist ganz eindeutig schief gelaufen. Doch jetzt noch was zu ändern wäre fatal. Doch viel fataler wäre es... zu warten.

III.

Draußen in der Ewigen Stille des Nichts durchbrach ein lautes Krachen die Ruhe des Seins. Nichts sollte mehr sein wie es war. Nicht ist mehr wie es war. Und niemals wird man wieder vom hier oder dort sprechen - aus Angst.

Wir befinden uns wieder im Moscherland, tief in den USUI Wäldern.
Unser Held Nöös liegt noch immer unbeweglich an einem Baum, an das weiche Moos gelehnt. Seine rechte Hand hält noch immer den Bärentöter fest umklammert. Das Handgelenk färbt sich dabei weiß und Adern treten hervor. Er atmet tief ein, reißt dann beide Augen auf und blickt dem Etwas direkt ins Gesicht.

Nöös ist wieder fünf. Ein kleines dickes Kind. Er rennt kreischend durchs Haus. Seine Mutter schnappt ihn und hebt ihn mit aller Kraft auf ihren Schoß. Sie wiegt ihn ruhig. Die lila Schäfchen springen mähend über einen Zaun. Der Zaun ist zu hoch, jedes zweite knallt dagegen.

Wieder im Wald.
Nöös reißt die Augen auf.
Den Bärentöter hat er von sich gestreckt. Dorthin wo er seinen Gegenüber erwartet hat. Aber da ist niemand. Er blickt auf das lange und breite Messer. Es ist blut verschmiert, er selbst unversehrt.

Nöös reibt sich die Augen, wischt seinen Bärentöter an einigen Blättern sauber. Alles erscheint ihm so unwirklich. Langsam trottet er Richtung Heimat.

Die Welt verliert an Komplexität. Das Sein bröckelt. Fehler entstehen und werden ausgebessert. Auf der Suche nach Antworten scheitert die Realität an den bekannten Aufgaben. Für einen winzigen Augenblick ist das Moscherland nicht mehr wirklich. Nöös zwinkert, reibt sich wieder die Augen. Sein Geist ist nicht in der Lage, die vielen Veränderung wahrzunehmen. Und dennoch oder vielleicht gerade deswegen pochen seine Schläfen, schmerzt sein Kopf und raßt sein Puls. Er sieht noch immer lila Schäfchen... Sie sind überall!

Vor ihm lichten sich die Wälder. Es beginnt zu dämmern. Ein kleines Dörfchen ist in der Ferne erkennbar. Die Luft wirkt schal und abgestanden.

 Nöss trottet weiter diesem Dorf entgegen, jeder Schritt scheint schwerer, mit jedem Meter scheint sein Ziel sich weiter von ihm weg zu bewegen. Er geht schneller, läuft schneller. Er rennt. Es wird heller, alles weiß. Alles dreht sich. Für einen Moment scheint er der Mittelpunkt vom allem.

 Nöös ist wieder fünf. Ein kleines dickes Kind. Er rennt kreischend durchs Haus. Er stolpert, bleibt bewegungslos liegen. Seine Mutter dreht ihn auf den Rücken, er blickt in ihr Gesicht. Ihr vertrautes Gesicht verzieht sich zu einem grünen Etwas.

 Er erwacht in einem Bett, eingewickelt in Decken. Er blickt sich um: alles fremd. Und dennoch weiß er, dass er sich nur in dem gesichteten Dorf befinden kann. Beruhigt lehnt er sich zurück und schließt wieder seine Augen.

 Was für ein Tag. Alles war so unwirklich. Hatte er nur geträumt ? Liegt er noch immer an diesem Baum ? Er öffnet die Augen – vor ihm der Wald. Nein. Er liegt in diesem Bett...

 ... und schläft. Fest. Bis in den nächsten Morgen.

 IV.

Welch eine nette Gesellschaft. Sie sitzen alle zusammen einem einem Tisch. Acht Leute insgesamt. Neben Nöös ein Arzt, der ihm soeben eine einwandfreie Gesundheit diagnostizierte und dann noch sieben weitere Menschen, die ihm sich zwar alle vorgestellt hatten, doch deren Namen er im gleichen Augenblick auch schon wieder vergessen hatte.

 Sie fragten ihn aus, sichtlich interessiert an den Geschichten ihres überraschenden Besuches. Nöös legte los. Seine Begabung Geschichten zu erzählen war trotz seines gestrigen Zustandes ungetrübt. Heute war wieder alles in Ordnung. Ihm wurde nicht mehr schwindelig, von Tagträumen keine Spur.

 Sie saßen lange zusammen. Er erzählte von seiner Kindheit in den Bergen der nördlichen Königsgebiete, von seinem Leben in USUI und seinen vielen Abenteuern in den USUI Wäldern. Seine neuen Freunde fieberten mit und brachten dies auch an den richtigen Stellen durch Geklatsche, Gekicher und Ausrufe angemessen zur Geltung

 Dann geschah es. Das Universum zerbrach entgültig in ein Nichts. Und setzte sich erneut und entgültig wieder zusammen.

 Nöös ist wieder fünf. Er kackt in eine Ecke. Seine Mutter schimpft ihn aus, doch er reagiert nicht. Er tritt um sich und rammt sich ein Kreuz in seinen Unterleib. Seine Mutter schreit, während er über seinem Kinderbettchen schwebt und mit einer tiefen und durchdringenden Stimme die Worte „Fick mit Jesus“ herausbrüllt.

Ein grünes Etwas steht vor ihm und hält ihm sein dünnes Ärmchen entgegen. Es wirkt vergnügt und freundlich. Daraufhin nimmt Nöös seinen Bärentöter und sticht auf das Wesen ein. Etliche Stiche später läßt er von dem Etwas ab und wischt seine Waffe an einigen Blättern sauber.

Nöös versucht die Wut über seine eigene Hilfslosigkeit unter Kontrolle zu bringenH... erfolglos. Er kniet sich neben das grüne Geschöpf und betrachtet es. Es zuckt noch ein wenig. Grünes Blut läuft aus den frischen Wunden.

Eine Träne läuft dem dicken Zwerg über das Gesicht. Er schließt die Augen und springt in den ihm dargebotenen Abgrund.

Fortsetzung folgt...

 

"Der dicke Zwerg" wurde von Danny Ghott verfaßt ([email protected]).
Alle Rechte liegen einzig und allein bei ihm!